Keine Kürzung der Mindestsicherung (Rede Landtag).

Rede zum Entwurf eines Gesetzes, mit dem das Wiener Mindestsicherungsgesetz WMG geändert wird, Wiener Landtag, 17.12.2020

Sehr geehrter Herr Präsident, Sehr geehrter Herr Stadtrat, Sehr geehrte Damen und Herren,

mit der vorliegenden Novelle zum Wiener Mindestsicherungsgesetz wird sichergestellt, dass arbeitslosen Bezieher*innen der Mindestsicherung die Corona Unterstützung für Arbeitslose nicht auf die Mindestsicherung angerechnet bekommen. Damit verhindern wir zurecht, dass diese wichtige Unterstützungsleistung zum Hosentaschengeschäft wird: Die besonderen Belastungen, die durch die Covid-Krise verursacht werden und durch diese Arbeitslosenunterstützung zumindest teilweise ausgeglichen werden sollen, dürfen nicht von der Mindestsicherung zum Abzug gebracht werden. Das stellen wir mit dieser Novelle sicher.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auch klarstellen: Meine Fraktion und meine Partei kämpft seit mehreren Jahrzehnten für eine generelle Erhöhung der Nettoersatzrate, für eine generelle Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Und wir tun das auch als Regierungspartei auf Bundesebene. Ja, eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist dringend notwendig. Nicht erst seit gestern. Dafür werden wir weiterhin kämpfen. Nicht nur in Sonntagsreden oder in Opposition, wie manche hier.

Was ich aber nicht zulasse ist, dass die Corona-Arbeitslosenunterstützung als lächerlich abgetan wird. 150 Euro mehr pro Monat sind nicht lächerlich. 150 Euro mehr im Monat sind eine wichtige Unterstützungsleistung in dieser schwierigen Zeit. Und eines möchte ich schon auch erwähnen, sehr geehrte Damen und Herren: Die gewählte Form hat sogar eine bessere Verteilungswirkung als eine befristete Erhöhung der Nettoersatzrate. Eine bessere Verteilungswirkung, weil Bezieher*innen von niedrigen Arbeitslosengeldern von einer absoluten Erhöhung mehr profitieren, als von einer prozentuellen.

Ja, eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist dringend notwendig. Nicht erst seit gestern. Nicht erst seit die Grünen in der Bundesregierung sind, sondern auch schon die letzten 50 Jahre. Und wissen sie, meine Damen und Herren, wer in den vergangenen 50 Jahren 40 Jahre lang den Bundeskanzler gestellt hat? Ich geb ihnen einen Tipp: Es waren nicht die Grünen. Wissen sie wer die Nettoersatzrate 1993 von 57,9 Prozent auf 57 Prozent gesenkt hat? Es war ein Bundeskanzler aus den Reihen einer Partei, die sich gerne als Partei der Arbeit bezeichnet. Wissen sie wer die Nettoersatzrate 1995 von 57 Prozent auf 56 Prozent gesenkt hat? Hinweis: Auch zu diesem Zeitpunkt war die SPÖ nicht in Opposition.

Die Verantwortung für die Senkung der Nettoersatzrate von 56 auf 55 Prozent gehört alleine der schwarz-blauen Regierung. Aber wissen sie wer die Nettoersatzrate nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 nicht erhöht hat? Ich geb ihnen einen Hinweis: Zuständig für Arbeit und Soziales war ein SPÖ Minister. Zuständig für die Führung der Regierung war ein SPÖ Kanzler. Wer, sehr geehrte Damen und Herren, hat nach der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht einmal eine befristete Unterstützung für jene, die durch die Krise ihren Job verloren haben, auf den Wege gebracht?

Sinowatz, Vranitzky, Klima, Gusenbauer, Faymann, Kern … Ich weiß nicht ob ihnen diese Namen bekannt vorkommen? Jedenfalls hat keiner dieser Herren eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf den Weg gebracht. Nein, das Arbeitslosengeld wurde unter sozialdemokratischer Führung sogar gekürzt. Die Umstellung von Brutto- auf Nettoersatzrate war der letzte Fortschritt, den die SPÖ beim Arbeitslosengeld umgesetzt hat. Das war 1989. Das war vor dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Ja, eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist dringend notwendig. Aber wie glaubwürdig ist diese Forderung von einer Partei, die in den vergangenen Jahrzehnten nichts getan hat, als das Arbeitslosengeld zu kürzen? Von einer Partei die in den vergangenen Jahren mehrere Male die Zumutbarkeitsbestimmungen verschärft hat? Von einer Partei, die nicht mal in der Krise 2008 befristete Unterstützungsleistungen auf den Weg gebracht hat?

Ich sag Ihnen was, liebe Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion: Es freut mich, dass sie zurück zu ihren Werten gefunden haben. Es freut mich, dass sie die Fehler der Vergangenheit wieder gut machen wollen. Es freut mich, dass nun Grüne und SPÖ für eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes eintreten. Aber hören sie bitte … nach jahrzehntelanger Untätigkeit von sozialdemokratisch geführten Regierungen in dieser Frage … mit dieser falschen Empörung auf und machen sie es das nächste Mal besser. Diese Kindesweglegung ist doch völlig unglaubwürdig.

Die befristete Unterstützung für Arbeitslose, die die Grünen in der Bundesregierung erreicht haben, ist mehr als sie in den vergangenen Jahrzehnten jemals in dieser Frage erreicht haben. Das ist – zugegeben – nicht schwer. Weil sie in den vergangenen Jahrzehnten in dieser Frage gar nichts erreicht haben.

Die vorliegende Novelle ermöglicht, dass diese Unterstützung für Arbeitslose auch in vollem Umfang bei arbeitslosen Mindestsicherungsbezieher*innen ankommt. Ich möchte aber den Anlass nutzen und noch etwas genauer auf die Zukunft der Wiener Mindestsicherung einzugehen.

Eine zentrale Geldleistung – die zentrale Geldleistung in Wien – ist die Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Und in diesem Zusammenhang bin ich doch ein weniger alarmiert, wenn Kollege Konrad von den NEOS in der Gemeinderatssitzung vom 11.12.2020 sagt:

„Eine Umschichtung von Geld- in Sachleistungen erscheint uns NEOs hier in gewissen Bereichen sinnvoll, um die Treffsicherheit zu erhöhen und die Leistungen jenen zu Gute kommen zu lassen, die sie auch wirklich brauchen.“

Diese Wortmeldung verstärkt unsere Befürchtung, dass die sozialliberale Koalition Kürzungen bei der Mindestsicherung vornehmen will. Diese Wortmeldung verstärkt die Befürchtung, dass die Richtwerte-Kommission, die die Koalition einrichten will, einzig und allein den Zweck verfolgt Geldleistungen zu kürzen und auf Sachleistungen umzuschichten. Offenbar weiß zumindest der Kollege Konrad schon was bei der wissenschaftlichen Evaluierung der Hilfen rauskommen soll.

Und nein, ich habe nichts gegen den Ausbau von Sachleistungen, falls sie das jetzt glauben. Die Sachleistungen, die zum Beispiel im Bereich der Pflege, der Behindertenhilfe oder der Wohnungslosenhilfe erbracht werden, sind enorm wichtig. Eine gute Sozialpolitik braucht Beides: Existenzsichernde Geldleistungen, inklusive Sachleistungen. Und noch viel wichtiger: Eine breite öffentliche Daseinsvorsorge und gute Arbeit, von der man leben kann.

Die Wiener Mindestsicherung ist ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Armut. Sie ist ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Armut, weil sie im Gegensatz zu anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren nicht gekürzt oder gedeckelt wurde. Türkis-Blau wollte uns das in Wien aufzwingen und ist vor dem Verfassungsgerichtshof erbärmlich gescheitert. Das sei auch in Richtung FPÖ gesagt, bei der das immer noch nicht ganz angekommen ist.

Wir haben aber auch auf Bundesebene dafür gesorgt, dass Geldleistungen wieder ausgebaut werden. Die Erhöhung der Mindestpension stark über der Inflationsrate – und daran hat sich auch die Erhöhung der Mindestsicherung zu orientieren – ist ein gutes Beispiel dafür. Ist das genug? Nein. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung: Ja, aus meiner Sicht, aus unserer Sicht ganz klar.

Währenddessen denkt die sozialliberale Koalition in Wien offenbar darüber nach Geldleistungen zu kürzen. Geldleistungen zu kürzen und in Sachleistungen umzuwandeln. Das ist grundsätzlich schon eine schlechte Idee. Aber, wie – sehr geehrte Damen und Herren – kann man auf die Idee kommen mitten in der Coronakrise eine solche Diskussion loszutreten? Das schafft zusätzliche Verunsicherung. Soziale Absicherung schafft es nicht.

Warum braucht es Geldleistungen? Weil Sachleistungen den Nachteil haben, dass sie paternalistisch wirken. Geldleistungen – natürlich in Kombination mit Sachleistungen – stellen zumindest ein gewisses Maß von Autonomie, von Selbstbestimmung her. Es geht darum, sehr geehrte Damen und Herren, dass der Sozialstaat den Armutsbetroffenen nicht durch alle seine Leistungen ausrichtet: Wir wissen besser was gut für Dich ist und was nicht. Es geht darum, dass Sozialpolitik nicht bevormundet, sondern ermächtigt. Dass unser Sozialsystem nicht Abhängigkeiten verstärkt, sondern Emanzipation ermöglicht. Es geht darum Armutsbetroffene nicht als Untertanen, sondern als Bürger*innen dieser Stadt zu verstehen.

Ich habe mich bei der Vorbereitung zu dieser Rede ja gefragt: Wie passt der Liberalismus der NEOS eigentlich mit diesem Sozialpaternalismus zusammen? Wie passt das zusammen: Freiheit und Bevormundung? Es passt zusammen, wenn man nicht die Freiheit der arbeitssuchenden Arbeitnehmer*innen in den Mittelpunkt stellt, sondern vielmehr die Freiheit der Arbeitgeber*innen auf der Suche nach funktionierendem Humankapital. Das ist dann halt eher ein wirtschafsliberaler als ein solidarischer Freiheitsbegriff.

Wofür ich aber überhaupt kein Verständnis habe ist, dass die SPÖ Sozialpolitik nicht endlich von dem Zugang abrückt alles besser zu wissen, als die Armutsbetroffenen selbst. Es ist ja nicht so, dass wir bei der Mindestsicherung über ein bedingungsloses Grundeinkommen reden. Im Gegenteil: Wir haben im Zugang zur Mindestsicherung einen de facto-Zwang zur Sachleistung verankert. Jede*r Arbeitsfähige muss nicht nur dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sondern auch an angebotenen Weiterbildungsmaßnahmen des AMS mitwirken, um keine Bezugssperre* zu bekommen. Ich ziehe den solidarischen Freiheitsbegriff dem paternalistischen Solidaritätsbegriff vor.

Die Mindestsicherung in Wien liegt aktuell für einen Einpersonenhaushalt bei 917,35 Euro. Die Armutsgefährdungsschwelle laut EU-SILC liegt aktuell bei 1.286 Euro. Vor diesem Hintergrund wäre eher ein Ausbau der Mindestsicherung anzustreben, sehr geehrte Damen und Herren. In jedem Fall ab aber keine Kürzung. Deshalb stellen wir den Antrag die im Wiener Mindestsicherungsgesetz normierten Geldleistungen zu erhalten beziehungsweise auszubauen.

Stimmen sie diesem Antrag zu. Stellen sie klar, dass keine Geldleistungen gekürzt werden und es sich nur um eine Einzelmeinung handelt.

Ich danke Ihnen vielmals für die geschätzte Aufmerksamkeit und hoffe auf ihre Unterstützung für unseren Antrag.

*Die Zahl der Sperren des Arbeitslosengeldes hat sich, zwischen 1990 und 2005 verfünffacht, sodass ein wachsender Anteil der Arbeitslosen in den letzten Jahren von Sanktionen betroffen ist.

Weiterführende Informationen zur Rede:

Weiterführender Text: Roland Atzmüller (2009): Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Österreich. In: Kurswechsel 4/2009: Seite 24–34

Presseaussendung: Wiener Mindestsicherung darf nicht gekürzt werden

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