Sehr geehrte Frau Vorsitzende, Sehr geehrter Herr Stadtrat, Sehr geehrte Kolleg*innen,
ich bin im Ursprungsberuf Sozialarbeiter. In der Sozialarbeitstheorie gibt es den Begriff der Daseinsnachsorge. Für jene, die sich bisher nicht so intensiv mit Sozialarbeitstheorie auseinandergesetzt haben: Gemeint ist nicht eine Sozialarbeit nach dem Dasein. Das hat nichts mit dem Tod zu tun.
Der Begriff der Daseinsnachsorge greift eine Funktion Sozialer Arbeit auf: Sozialarbeit versucht den Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft – aus dem Bildungssystem, aus dem Arbeitsmarkt, aus dem Gesundheitssystem – zu beenden und Inklusion zu ermöglichen.
Die beste Daseinsnachsorge ist eine breite, öffentliche Daseinsvorsorge. Weil genau die verhindert den Ausschluss aus wichtigen Gesellschaftsbereichen. Wenn die Daseinsvorsorge funktioniert braucht es keine Soziale Arbeit die Daseinsnachsorge betreibt.
Die Stadt Wien hat in vielen Bereichen eine traditionell gute, öffentliche Daseinsvorsorge. Aber auch diese gute Daseinsvorsorge hat Lücken: Zum Beispiel, wenn es um den Zugang von Nichtversicherten zum Gesundheitssystem geht. Zum Beispiel, wenn es um den Zugang von Wohnungslosen zu Wohnraum geht. Zum Beispiel, wenn es um den Zugang von Armutsbetroffenen zum tertiären Bildungssystem geht. Zum Beispiel, wenn es um den Zugang von Langzeitarbeitslosen zum Arbeitsmarkt geht. Und alle diese Inklusionsprobleme werden durch die größte Wirtschaftskrise der 2. Republik nicht einfacher zu bearbeiten.
Ihr Koalitionsabkommen ist von zwei Prinzipien beherrscht: Dem sozialpaternalistischen Prinzip Integration durch Arbeit und dem liberalen Prinzip Aufstieg durch Bildung. Verstehen sie mich nicht falsch: Eine gut funktionierende Arbeitswelt und ein gut funktionierendes Bildungssystem sind zentrale Säulen einer inklusiven Gesellschaft.
Was sie aber in ihrem Koalitionsabkommen vollkommen ausblenden, ist die ökonomische Ungleichheit, die Verteilungsfrage. Das überrascht mich jetzt bei den Adlaten der Agenda Austria nicht wirklich. Aber dass Sie liebe Kolleg*innen von der Sozialdemokratie in ihrem Koalitionsabkommen Sozialpolitik auf Aufstieg durch Bildung und Arbeitsmarktzugang reduzieren ist schon bemerkenswert kurz gedacht.
Sie wissen, dass Reichtum und Armut vererbt werden. Und trotzdem gibt es zur Armutsbekämpfung in ihrem Programm nichts als ein paar Überschriften. Das reicht nicht, in einer Wirtschaftskrise, in der breite Gesellschaftsgruppen von Armut gefährdet sind.
Wie organisieren wir die Delogierungsprävention, wie verhindern wir Wohnungslosigkeit durch diese Krise? Nichts. Wie bauen wir die Geldleistungen und Sachleistungen so aus, dass sie manifeste Armut verhindern? Nichts. Wie helfen wir jene Menschen, die in Wien leben und nicht krankenversichert sind in unser Gesundheitssystem? Nichts.
Manchmal hat man beim Lesen ihres Koalitionsabkommens den Eindruck die Coronakrise findet nicht statt. Dabei müssen wir gerade jetzt die Daseinsvorsorge stärken. Die Daseinsvorsorge stärken, damit wir nicht sehr viele Fälle für die Daseinsnachsorge produzieren. Weil das kommt uns dann wirklich teuer zu stehen. Sowohl den Armutsbetroffenen, als auch der Gesellschaft.
Ich weiß, dass der Herr Stadtrat diesem Zugang grundsätzlich etwas abgewinnen kann. Ich verfolge seine Arbeit im FSW und jetzt im Stadtsenat sehr genau. Deshalb hoffe ich, dass da in den nächsten Monaten noch ein bisschen mehr kommt als Business as usual und die liberale Verkürzung von Armut zu einem Problem des Bildungssystems.
Wir werden unseren Beitrag leisten und Vorschläge einbringen. Zum Beispiel heute jenen die Wiener Energieunterstützung auf alle armutsgefährdeten Haushalte auszudehnen. Zum Beispiel gestern jenen den Delogierungsstopp bei Wiener Wohnen bis Ende 2022 zu verlängern. Zum Beispiel heute jenen Housing First massiv auszubauen.
Stärken sie mit uns die öffentliche Daseinsvorsorge, dann haben sie uns als Partner*innen.
Vielen Dank!